Beitrag von Klaus Mecherlein, dem Leiter des euward-Archivs der Augustinum Stiftung München. Der euward ist der Europäische Kunstpreis für Malerei und Grafik im Kontext von geistiger Behinderung. Die Ausstellung der diesjährigen Preisträger*innen findet vom 22.7. bis 9.9.2018 im Buchheim Museum in Bernried statt.

Tim ter Wal, Old Factory inside, copyright: Tim ter Wal

In der internationalen Szene der sogenannten Outsider Art gilt der seit 2000 alle drei Jahre von der Augustinum Stiftung München präsentierte Kunstpreis als die bedeutendste Schau zeitgenössischer Kunst dieser Art in Europa. Es ist der Anspruch des euward (european award), die künstlerische Qualität im Schaffen dieser kulturellen Außenseiter* innen sichtbar zu machen. Mit der Auszeichnung wird ihre Bedeutung für unsere Kultur erschlossen. Ihre Bildschöpfungen sind ein vitaler Impuls zeitgenössischer Kunst. Rein soziale Aspekte spielen dabei keine Rolle.

Eine Jury von bekannten Fachleuten wählt aus den Bewerbungen aus ganz Europa drei Preisträger*innen. Sie erhalten eine Ausstellung ihrer Werke im Buchheim Museum in Bernried bei München. Eine umfangreiche monografische Ausstellung präsentiert ihr Werk, eingebettet in die Überblicksschau von ca. 100 Arbeiten aller siebzehn nominierten Künstler* innen. Der/die Betrachter*in taucht ein in eine Bilderwelt, die den kreativen Reichtum dieser Schöpfer*innen am Rande unserer offiziellen Kultur zeigt. Ihre Arbeiten finden seit Jahren in der Kunstszene immer mehr Beachtung. Und nicht umsonst gehören sie seit der Klassischen Moderne zu den wichtigsten Impulsgebern westlicher Kunst.

Der euward ist die einzige Auszeichnung von internationaler Bedeutung für eine Kunst im Kontext von geistiger Behinderung. Mit ihrem Konzept, das aktuelle Schaffen noch unentdeckter Künstler zu jurieren, zu präsentieren und sie zu fördern, leistet die Augustinum Stiftung einen entscheidenden Beitrag zu ihrer Wahrnehmung.

Michael Golz, Ohne Titel, copyright: Michael Golz

 

Outsider Art Was ist Outsider Art?

Erfindungsreichtum, ungebrochene Fantasie: Schöpfung aus dem inneren Erleben und ihre unkonventionelle Bildsprache kennzeichnen die Werke von Outsider-Künstler*innen. Als geistig oder psychisch behinderte Menschen leben sie am Rande der Gesellschaft und schaffen abseits der kulturellen Öffentlichkeit Kunstwerke von großer Eindringlichkeit und Überzeugungskraft. Bilder, die in erster Linie als Dokumente eines ungeahnt reichen geistigen Lebens verstanden werden müssen. Outsider sind akademisch ungeschulte, quasi semi-professionell tätige Künstler*innen. Sie bilden eine eigenständige künstlerische Szene, sofern sie sich, unberührt von den Tendenzen jeweils zeitgenössischer Kunstentwicklung, eine besondere Ursprünglichkeit des Bilderschaffens bewahrt haben.

Debatte

Das künstlerische Schaffen von Menschen mit geistiger Behinderung weist bereits eine lange Tradition auf. Kontinuität und Wandel dieser Kunst und ihrer Rezeption werden durch den international gebräuchlich gewordenen Begriff der „Outsider Art“ beleuchtet. Diese Wortschöpfung schreibt ihrem Werk eine besondere Stellung im Kontext der bildenden Kunst zu, die sich einerseits aus den sozialen Entstehungsbedingungen und den damit verbundenen spezifischen Erfahrungen herleitet. Andererseits betont der Terminus aber auch die kulturelle Marginalität der Künstler*innen. Obgleich sie durch ihre Kunst einen beträchtlichen Einfluss auf die bildnerischen Ausdruckweisen und Entwicklungen von der Moderne bis heute ausgeübt haben, sind sie in der kulturellen Wahrnehmung buchstäblich Außenseiter*innen geblieben.

Geschichte

Euphorie löste die Entdeckung dieser spontanen Kunstwerke zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei den führenden Künstler*innen der europäischen Avantgarde aus. Ihre Identifikation mit den meist in Anstalten oder in völliger Abgeschiedenheit arbeitenden Kolleg*innen war ebenso stark wie die Inspiration, die von der unverbildeten Kreativität ihrer Arbeit ausging. In den Bildern (und Schriften) von Insassen psychiatrischer Kliniken, die seit Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer Reihe von Veröffentlichungen publiziert worden waren, feierten sie die „reine Erfindungsgabe“, „die Wunder des Künstlergeistes, die aus den Tiefen jenseits alles Gedanklich-Überlegten heraufdämmern“ (Alfred Kubin). Künstler wie Paul Klee, Wassily Kandinsky, Pablo Picasso, vor allem die Surrealisten um Max Ernst und André Breton identifizierten sich radikal mit der Schaffensweise und den Bildwelten dieser kulturellen Außenseiter*innen, die einen völlig neuen Blick auf die Welt und die Gründe der menschlichen Seele eröffneten.

Mit der theoretischen Begründung dieser „außerkulturellen Kunst“ (Art Brut), insbesondere mit seiner umfangreichen Sammeltätigkeit, ist der französische Künstler und Kunsttheoretiker Jean Dubuffet seit Mitte der 40er Jahre zu ihrem Patron und Wegweiser geworden. Sein lebenslanges argumentatives Eintreten für die künstlerische Relevanz der Außenseiter* innen hat deren Wahrnehmung bis heute bestimmt. Unter dem Namen „Art Brut“ und später „Outsider Art“ (Roger Cardinal, UK) hat sie so auf die Entwicklung der Kunst seit der klassischen Moderne einen unschätzbaren Einfluss ausgeübt. Eine mittlerweile über hundertjährige Tradition außergewöhnlicher Bildschöpfung, die durch museale und private Sammlungen auch im deutschsprachigen Raum belegt wird.

Ausstellungsfoto des euward 6 2013/14 im Buchheim Museum Bernried am Starnberger See

 

Aktuelle Situation

Vor einem relativ stark veränderten soziologischen wie auch medizinischen Hintergrund ist die Entwicklung dieser künstlerischen Szene heute zu sehen. War Outsider Art lange Zeit noch der Geheimtipp unter Künstler*innen, Sammler*innen und Liebhaber*innen geblieben, wird ihre Entstehung zunehmend durch Behinderteneinrichtungen und psychiatrische Kliniken begünstigt. Betreute Ateliergemeinschaften, Kunstwerkstätten oder auch der Kunsttherapie nahestehende Angebote fördern die Kunst ihrer Klient*innen und bilden Orte kreativer Ausstrahlung in ganz Europa, die an die Tradition der Outsider anknüpfen. Hervorragende Beispiele für die zeitgenössische Arbeit von geistig behinderten Künstler*innen und deren Förderung bieten die Ateliers aus ganz Europa, deren Künstler*innen im Rahmen des euward im Buchheim Museum nun präsentiert werden.

Außenseiterkunst findet gegenwärtig eine so große öffentliche Beachtung wie kaum jemals zuvor. Gleichwohl entzieht sich das Werk der Outsider-Künstler*innen, ihre schöpferische Existenz, zumeist auch heute noch den gängigen Wertvorstellungen der etablierten Kultur. Der künstlerische Anspruch ihrer Arbeit bedeutet nichts weniger als eine Erschütterung des überkommenen kulturellen Selbstverständnisses.

 

ZUM FESTIVAL

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